Mobilfunk: Feldstudie belegt Gesundheitsrisiko bei Anwohnern
Die Bedeutung der Studie erschließt sich aus der Vorgeschichte. Vor 20 Jahren beschrieb die damalige Naila-Studie, dass im Umkreis von 400 Metern um eine Sendeanlage das Krebsrisiko erhöht ist, damals allerdings ohne den biologischen Mechanismus dahinter zu kennen. Offen blieb die Frage, wie denn so etwas möglich sei. Die ATHEM-3 Studie verleiht den “vergessenen” Naila-Befunden aus 2004 neue Aktualität. Erstmals wird in einer Feldstudie ein biologischer Mechanismus direkt am Menschen beschrieben, der die Befunde der Naila-Studie und weiterer Berichte plausibel macht.
Gulati et al. untersuchten in ihrer Studie die biologischen Auswirkungen von Mobilfunksendeanlagen auf Menschen. Für die Studie wurden von 24 freiwilligen Teilnehmern (Alter zwischen 24 und 63 Jahren) 2 Gruppen zu je 12 Personen gebildet. Die Kontrollgruppe (Gruppe C für Kontrolle, Entfernung 767 ± 241 m von der Sendeanlage) enthielt 6 männliche und 6 weibliche Probanden, die Gruppe mit relativ starker Hochfrequenz-Belastung (Gruppe E für Exposition, Entfernung 125 ± 35 m) 5 Männer und 7 Frauen. Die Befeldungsstärke entsprach realen Bedingungen:
- Bestrahlte Gruppe: 7,1 μW/m² bis 295,8 μW/m² (GSM); 54,0 μW/m² bis 804,0 μW/m² (LTE)
- Kontrollgruppe: 0,0 bis 4,5 μW/m² (GSM); 0,1 μW/m² bis 7,7 μW/m² (LTE)
Anwohner, die der Strahlung von Basisstationen länger als 5 Jahre ausgesetzt waren, wurden auf genetische Instabilität getestet, das Hauptergebnis sind Auswirkungen auf die Chromosomen. Die Chromosomenaberrationen waren statistisch signifikant. Zellbiologisch bedeutet dies eine Veränderung des Erbmaterials, da Chromosomen unsere genetischen Informationen enthalten. Die Konsequenzen können gesundheitliche Auswirkungen bis hin zu Krebs sein.
Die Studie von Gulati et al. ist eine Studie von hoher Qualität und Aussagekraft. Die Blutuntersuchungen wurden am Institut von Prof. I. Belyaev an der Universität Bratislava durchgeführt, das über eine hohe Expertise verfügt, die Dosimetrie von dem Baubiologischen Messtechniker Dr. Dietrich Moldan mit neuester Technik. Studiendesign und Koordination lag in den Händen von Prof. Dr. med. Wilhelm Mosgöller (Medizinische Universität Wien).
Interview mit Prof. Dr. med. Wilhelm Mosgöller
Mit dem Studienleiter Prof. Dr. Wilhelm Mosgöller führten wir ein Interview über die gefundenen Genomschäden, die nach jahrelanger Exposition mit geringen radiofrequenten elektromagnetischen Feldern als Chromosomenschäden auftraten, die in der Medizin als Risikoindikatoren gelten.
KOMPAKT: Herr Professor Mosgöller, Sie hatten die Projektleitung der ATHEM-3 Studie. In ihr wurde untersucht, ob und wie hochfrequente elektromagnetische Strahlung von Mobilfunkmasten auf Menschen wirkt. In Deutschland wurde seit der Naila Studie (2004) nicht weitergeforscht. Was genau untersuchten Sie? Und was genau ist der Bezug zur Naila Studie?
WILHELM MOSGÖLLER: Bei uns ging es methodisch gesehen nicht um Epidemiologie wie bei Naila, sondern wir haben in die Studie gesunde Personen aus einer Wohnregion aufgenommen und verglichen, je nachdem, ob sie entweder kaum exponiert sind oder alternativ relativ hohe Immissionen in ihren Wohnungen hatten. Entscheidend für die Teilnahme war, dass die Bewohner zumindest 5 Jahre an dem untersuchten Wohnort gewohnt hatten. Bedeutsam ist, dass die Effekte, die wir nach jahrelanger Exposition feststellten, bei Expositionen um den Faktor 100 unter den aktuell erlaubten Werten entstanden(Anm. diagnose:funk: Gemeint sind die ICNIRP-Grenzwerte, s. Tabelle 2, S. 3 der Studie).
ATHEM-3-Studie: „Die Effekte, die wir feststellten, entstanden bei einem Faktor 100 unter den erlaubten Werten!“
KOMPAKT: Welche Strahlungsquellen und anderen Umwelteinflüsse wurden bei der Untersuchung berücksichtigt?
WILHELM MOSGÖLLER: Es war uns wichtig, dass wir uns nicht auf die räumliche Nähe zum Mobilfunkmasten beziehen, sondern auf die tatsächlich vorhandenen HF-EMF (Hochfrequente Elektromagnetische Felder) Immissionen. Das sind jene, die von Mobilfunkmasten kommen, aber auch jene, die durch WLAN und Schnurlostelefone hausgemacht sind. Ein großer Teil der Untersuchungen beschäftigte sich mit Lebensstilfaktoren und Lebenserfahrungen der Teilnehmer. Es ist ja nicht so, dass nur die Exposition zu hochfrequenten Feldern allein ein Risiko darstellt. Uns ging es auch darum, denkbare Einflüsse wie Ernährung, Umwelteinflüsse, berufsbedingte Expositionen, selbst gemachte HF-EMF Expositionen, z.B. WLAN, zu dokumentieren und deren möglichen Einfluss auf die Befunde zu oxidativem Stress, DNA- und Chromosomenschäden zu berücksichtigen.
KOMPAKT: … und wer wurde untersucht?
WILHELM MOSGÖLLER: Die beste Wissenschaft wäre wertlos, hätten die Bewohner nicht mitgemacht. Sie haben uns ihre Häuser geöffnet und ermöglicht, die vorhandenen hoch und niederfrequenten Felder – hausgemacht und von extern kommend – detailliert zu erfassen.
Auf Basis der in den Häusern vorgefundenen Immissionen ließen sich die Studienteilnehmer zwanglos zwei direkt miteinander vergleichbaren Gruppen zuteilen: (1) Überdurchschnittlich hoch mit HF-EMF exponiert, (2) kaum oder niedrig exponiert. Die freiwilligen Teilnehmer stellten Blutproben zur Verfügung. Die Proben-Untersuchungen wurden unter mehrfach verblindeten Bedingungen durchgeführt, das heißt, keine der biologischen Analysen konnte durch die denkbare Erwartungshaltung der Untersucher beeinflusst werden.Während des gesamten Projektes wurden keine zusätzlichen EMF-Immissionen erzeugt. Es wurden ausschließlich Immissionen ausgewertet, die im Alltag unserer Teilnehmer vorkommen.
KOMPAKT: Was war das Hauptergebnis?
WILHELM MOSGÖLLER: Wir hatten negative Befunde, aber auch klar positive Ergebnisse: Bei den Chromosomenschäden hat uns dann doch überrascht, wie klar das Ergebnis war. Zwar gab es Hinweise auf derartige Wirkungen von HF-Exposition auch schon früher, diese stammten typischerweise aus in vitro Kurzzeit-Laborversuchen oder von Tierexperimenten. Zu Projektbeginn war ja eine Fragestellung, ob es bei geringer Alltags-Exposition nicht zu Anpassungen kommt. Aber die Befunde sprechen eher dafür, dass Chromosomenschäden sich mit der Zeit ansammeln. Die hoch signifikanten Unterschiede zwischen der exponierten Gruppe und der Kontrollgruppe zeigen an, dass für die gefundene genetische Instabilität eine Langzeiteinwirkung der Mobilfunkstrahlung von GSM- und LTE-Basisstationen die wahrscheinlichste Ursache ist.
KOMPAKT: Und welche gesundheitlichen Folgen könnte diese genetische Instabilität für die Anwohner haben?
WILHELM MOSGÖLLER: In unserem Fall waren die Teilnehmer während der Untersuchungen allesamt gesund, und sind es hoffentlich immer noch. Man würde also das “Kind mit dem Bade” ausschütten, spräche man von akuten gesundheitlichen Auswirkungen. Worum es wirklich geht, sind Risikofaktoren und Risiko-Indikatoren für Langzeitauswirkungen.
Prof. Dr. Wilhelm Mosgöller, Leiter der ATHEM-Studien

Sendemast in Stuttgart-West: aufgrund von Protesten wurde er abgebaut
Das Hauptergebnis der ATHEM-3 Studie: Chromosomenabberationen
Welche Folgen hat es, wenn die hochsensiblen Organismen von Kindern einer Dauerbestrahlung ausgesetzt sind? Im Bild: Bürgerinitiative Cavertitz in Aktion
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Prof. Dr. Wilhelm Mosgöller, Leiter der ATHEM-Studien2
Sendemast in Stuttgart-West: aufgrund von Protesten wurde er abgebaut3
Das Hauptergebnis der ATHEM-3 Studie: Chromosomenabberationen4
Welche Folgen hat es, wenn die hochsensiblen Organismen von Kindern einer Dauerbestrahlung ausgesetzt sind? Im Bild: Bürgerinitiative Cavertitz in Aktion
KOMPAKT: Welche Relevanz für die Gesundheit hat nun ihr Ergebnis? In Großstädten wohnen ja oft tausende Menschen um so eine Sendeanlage herum.
WILHELM MOSGÖLLER: In Großstädten sind es zumeist nur sehr “kleine” und dicht gestreute Anlagen. Das ergibt eine völlig andere Expositionscharakteristik als wir es vorfanden, und in der Stadt gibt es eine Vielzahl von Einflussfaktoren. Als Untersuchungsergebnis erwarten Sie da mehr Fragezeichen als Antworten. Aber unsere Ergebnisse sind stimmig zu jenen der Naila-Studie und weiteren gleichartigen Studien. Die gefundenen Chromosomenaberrationenwaren statistisch signifikant.
Allerdings, Chromosomenschäden sind zunächst mal ein Risikoindikator. Es wird Personen geben, die dieses Risiko nicht lukrieren, und solche, die es schon lukrieren. Wer seine genetischen Gesundheitsrisiken kennt, kann sich darauf einstellen, oder abwarten, ob es realisiert wird. Um das Ausmaß der gesundheitlichen Relevanz “belastbar” abzuschätzen, braucht es mehr als nur eine einzige epidemiologische Studie. Auch in der Wissenschaft gilt: “Eine Schwalbe macht noch keinen Sommer”. Es war im Jahr 2014, als mein Kollege Michael Kundi für das Anfertigen einer Metaanalyse von Human-Studien rund um Basisstationen klarstellte, dass weniger die Nähe zum Masten, sondern die HF-EMF Immission von Masten ausschlaggebend ist. Beim bloßen Anblick eines Masten kann man nicht sicher sagen, wie groß die Felder sind, die von den Antennen ausgehen. Bei unserer Expositionsgruppe war es zwar nicht so, aber grundsätzlich besteht die Möglichkeit, dass die hausgemachten Felder durch WLAN oder DECT-Telefonen genauso hoch und höher sind, als das, was von extern hereinkommt.
KOMPAKT: Sehen wir das richtig? Im Klartext heißt das: Je näher und länger am Sender, desto größer die Wahrscheinlichkeit einer Schädigung im Erbgut.
WILHELM MOSGÖLLER: Im Prinzip ja, aber ganz so einfach ist es dann doch nicht. Die räumliche Nähe zum Sender ist ein erster Anhaltspunkt. Wenn Sie sich drauf verlassen, könnten sie auch falsch liegen. Viel hängt davon ab, ob Sie sich in Hauptstrahlrichtung befinden, oder ob es Abschattungen gibt. Manchmal haben Sie “unter dem Sender” weniger Exposition als in 200 Meter Entfernung. Das hängt von der Ausrichtung der Antenne ab. Dass mit der Zeitdauer der Exposition die Schäden ansteigen, das ist eine der wichtigsten Schlussfolgerungen in der Publikation Gulati et al. 2024. Bei Gewöhnungseffekten hätten wir keinen solchen Effekt gefunden. Bei früheren Kurzzeit-Zellversuchen oder Tierexperimenten gab es gemischte Ergebnisse. Dass es nun beim Menschen so klar auftritt, war überraschend und gehört nachuntersucht.
KOMPAKT: Eine Gewöhnung, also eine Adaption des Organismus fand also nicht statt?
Ja, das kann man so sagen.Unsere Anfangs-Hypothese, dass sich nach Jahren ein Gewöhnungseffekt einstellt, mussten wir verwerfen. Im Gegenteil, es sieht danach aus, als würden Felder mit niedriger Intensität, ab ca. 1 mW/m² Effekte hervorrufen und diese sich sogar über die Zeit anhäufen. Die Metaanalyse von Michael Kundi von 2014, die er für den Leitfaden Senderbau erstellte, und unsere Ergebnisse 10 Jahre später, passen gut zusammen.
KOMPAKT: Wie lässt sich das Ergebnis von ATHEM-3 einordnen?
WILHELM MOSGÖLLER: Als wir 2002 mit der ATHEM-Versuchsserie starteten, wurde noch heftig diskutiert, ob es zusätzlich zu den damals hinreichend bekannten thermischen Effekten der Mikrowellen so genannte nicht-thermische Felder überhaupt gibt. Dazu muss man wissen, die Grenzwerte basieren heute noch auf dem thermischen Prinzip, sie schützen zuverlässig, allerdings nur vor Wärmeeffekten.
Ein Ergebnis von ATHEM-1 (2002-2008) war, dass stundenlange Exposition mit niedrigen Intensitäten von HF-EMF in bestimmten Zellen zu DNA-Brüchen führt, und andere Zellen sich unempfindlich zeigten. Damit haben sich die einst als widersprüchlich diskutierten Befunde in der Forschung als scheinbar herausgestellt. Auch wenn wir damals nur wenig über die Bedeutung freier Radikale wussten, waren für uns die Ergebnisse damals schon überzeugend, weil in den gleichen Zellen, die expositionsbedingte DNA-Schäden aufwiesen, kam es auch zu Veränderungen des Proteinhaushalts, die wir in den unempfindlichen Zellen – ohne DNA-Schäden – nicht beobachteten.
Die Ergebnisse waren also stimmig, was blieb ist die Frage „Wie denn das möglich sei, dass HF-EMF zu DNA-Brüchen führt?“. Einerseits waren es internationale gleichartige Befunde, andererseits hat das Nachfolgeprojekt ATHEM-2 (2012-2016) die DNA-Schäden bestätigt. Darüber hinaus bestätigte sich im ATHEM-2 Projekt auch, dass unter HF-EMF Exposition oxidativer Stress entsteht, der die DNA oxidativ schädigen kann. Bei der Reparatur dieser Schäden durch die Zelle treten selten, aber doch Fehler auf. Erhöhte Reparaturraten erhöhen auch die Fehlerraten. DNA-Schäden stören, bzw. zerstören die genetische Information in der DNA. Geringe DNA-Störungen können sich der Beobachtung entziehen. Das alles weiß man aus in-vitro Laborstudien. Nun, bei ATHEM-3 konnten wir die Relevanz dieser Erkenntnisse in einer Humanstudie bestätigen.
KOMPAKT: Die Aussage steht im Raum, dass die gefundenen Chromosomenschäden die biologischen Grenzwerte (1) der IAEA (International Atomic Energy Agency) um ein Mehrfaches übersteigen. Ein skandalöser Befund. Wie ist diese Ähnlichkeit mit den Auswirkungen ionisierender Strahlung zu erklären?
WILHELM MOSGÖLLER: Wenn man sagt, dass ionisierende Strahlung die menschliche DNA direkt brechen kann und HF-EMF könnten das nicht, so ist das biologisch betrachtet sehr grob vereinfacht. Beide Strahlenarten bewirken DNA-Schädigung über so genannte freie oxidative Radikale. Exzessive oxidative Veränderungen verursachen DNA- und Zellschäden, egal welche Strahlen die oxidativen Radikale bewirkt haben. Ionisierende Strahlen wirken schnell, anders bei nicht-ionisierenden HF-EMF. Es braucht Stunden, Tage, bis Jahre, bis die Zellschädigung auftritt, so sie auftritt, wie bei uns der Fall.
Für sehr geringe Schadwirkungen hat die IAEA biologische Grenzwerte eingeführt, weil es bei Langzeitexposition einfacher ist, die Effekte geringer Bestrahlung an den Folgen zu messen, als mit physikalischen Messungen, wie es bei HF-EMF üblich ist. Da aber unser Hauptbefund expositionsbedingte Chromosomenschäden sind, ist es naheliegend, diesen Befund mit normen-gerechten Chromosomenschäden abzugleichen. Das vorgefundene Schadausmaß entspricht der mehrfachen Überschreitung der IAEA-Grenzwerte. Ich gehe davon aus, dass in dieser Sache das letzte Wort noch lange nicht gesprochen ist.
In diesem Zusammenhang gibt es zwei Projekte, die ich erwähnen möchte:
- Der Leitfaden Senderbau, den wir in Österreich entwickelt haben.
- Das St. Gallener Modell, mit dem mit Kleinsendern eine Strahlungsminimierung erreicht wurde.
KOMPAKT: Was ist der Leitfaden Senderbau?
WILHELM MOSGÖLLER: Bereits im Jahr 2014 haben bedeutende Österreichische Verbände von Wirtschaft, Arbeitnehmerschutz, Mediziner, etc. den „Leitfaden Senderbau”(LSB) herausgebracht. Er wurde entwickelt, um bei Bauwerken und installierten Antennen die Sichtweisen beider, der Antennenbetreiber und jene der exponierten Anrainer, einfließen zu lassen. Der LSB ist eine Leitlinie, die ALARA und ALATA Prinzipien im Sinne eines sozial- und umweltverträglichen Baus und Betriebs von Antennenlagen umsetzt.
Auf Seite 30 findet sich die vorhin erwähnte Metaanalyse von 30 Studien zu Basisstationen, die Prof. Michael Kundi seinerzeit durchführte. Als direkte Folge dieser Analyse plädiert der LSB für die Suche nach alternativen Standorten oder Maßnahmen, wenn die Höchstbelastung durch HF-EMF in Summe 1000 µW/m2 Leistungsflussdichte übersteigt. In unserer Studie (ATHEM 3) lag die Kontrollgruppe deutlich unter 1000 µW/m2 Leistungsflussdichte, und die Untersuchungsgruppe darüber. Die Studie Gulati et al. (2024) fügt sich also stimmig in die Metaanalyse von 30 Publikationen.
KOMPAKT: Was darf man sich unter “St. Gallener Modell” vorstellen?
WILHELM MOSGÖLLER: Eine groß angelegte Untersuchung zur Mobilfunkversorgung der St. Galler Innenstadt mit Kleinzellen hat ergeben, dass damit sich regionale Spitzenwerte einebnen lassen. Weil der Betreiber aber dann beschloss, es so wie gewohnt zu machen, kam es zu keinem gemeinsamen Report. Die Stadt empfahl damals als expositionsreduzierende Maßnahme, den Datentransfer in Innenräumen über kabelgebundene Infrastruktur abzuwickeln.
KOMPAKT: Was müsste getan werden, die Bevölkerung vor diesen Belastungen und den Risiken, die daraus folgen, zu schützen?
WILHELM MOSGÖLLER: Man muss nicht auf die Vorteile des Mobilfunks verzichten, um das mit der HF-EMF Exposition assoziierte Risiko auf ein hinreichendes Maß zu reduzieren. Es gäbe eine Reihe von Möglichkeiten, allein im organisatorischen Bereich.
Die Zusammenarbeit aller Mobilfunkanbieter in einem Land würde die Exposition der Bevölkerung schlagartig reduzieren, also ein Netz für alle, durch sogenanntes Roaming. Dass jeder Mobilfunk-Anbieter ein eigenes Netz von Basisstationen betreibt, ist ein Merkmal der Mobilfunkbranche. Kein Kfz-Hersteller baut ein Straßennetz nur für Autos der eigenen Marke, kein privater Stromerzeuger versorgt die Kunden über ein eigenes Stromnetz, kein Pharmakonzern betreibt Verkaufsstellen, also Apotheken, für nur eigene Produkte. Innerhalb der Staatsgrenzen könnte ein gemeinsam genutztes Funknetz Funklöcher schließen, den Batterieverbrauch reduzieren, die Verbindungsqualität heben und die Exposition der Bevölkerung mit HF-EMF deutlich reduzieren.
Eine Präventionsempfehlung kann jeder bei sich zu Hause umsetzen, nämlich die IT-Infrastruktur kabelgebunden – oder als kabellose Variante, wie z.B. mit Licht-als-Trägerwelle einrichten.
Der Arzt Paracelsus, ein Zeitgenosse von Gaileo Galilei, hat einen bis heute gültigen Grundsatz definiert: “Alle Ding sind Gift und nichts ohn´ Gift. Allein die Dosis macht, dass ein Ding kein Gift ist.” Etwas moderner ausgedrückt: “Die Dosis macht die Wirkung (und/oder das Gift)”. Was bedeutet das, übertragen auf die Situation bei Hochfrequenz-Exposition?:
Die Intensität der Exposition halte klein (z.B. beim Telefonieren durch Abstand zum Mobiltelefon und Nutzung der Freisprechfunktion), die Zeitdauer der Exposition halte möglichst kurz. Nutze dein Mobiltelefon so wie dein Auto. Wenn Du es nutzt, dann nicht gedankenlos. Stell es ab, wenn du es nicht brauchst.
KOMPAKT: Herr Professor Mosgöller, wir danken für die geduldige und detaillierte Beantwortung der Fragen und vor allem für diese Studie.
Interview mit dem Arzt Dr. Jörg Schmidt (IPPNW)
Wie sieht ein Mediziner – Experte für die Auswirkungen von Radioaktivität, also ionisierender Strahlung – das Ergebnis der ATHEM-3 Studie? Die ATHEM-3 Studie weist nach, dass die Langzeit-Bestrahlung durch Mobilfunksendeanlagen zytogenetische Wirkungen auf Chromosomen, sogenannte Chromosomenaberrationen, zur Folge haben kann. Diese Auswirkungen hat auch, schon längst nachgewiesen, radioaktive Strahlung. Dazu fragten wir Dr. Jörg Schmid, der sich seit Jahren bei der IPPNW (ÄrztInnen zur Verhütung des Atomkrieges) mit den medizinischen Folgen von radioaktiver Strahlung beschäftigt.
KOMPAKT: Herr Dr. Schmid, seit Jahrzehnten beschäftigen Sie sich mit den Auswirkungen ionisierender Strahlung auf den Organismus, wie sie insbesondere in Tschernobyl und Fukushima ganze Landstriche und Bewohner verseuchte! Warum wirkt diese radioaktive Strahlung so zerstörerisch auf Organismen?
JÖRG SCHMID: Seitens der radioaktiven Strahlung müssen wir immer die jeweilige Dosis und den jeweils spezifischen Wirkmechanismus auf den Körper unterscheiden. Die sog. deterministischen Schäden beziehen sich auf eine hohe Strahlung und führen innerhalb von Tagen zur akuten Strahlenerkrankung bis hin zum Strahlentod – wie wir es bei den hoch verstrahlten Feuerwehrmännern in Tschernobyl sehen mussten. Der Schädigungsmechanismus hier ist auf zellulärer Ebene der Mitosestopp und damit der Zelltod.
Die sog. stochastischen Schädigungen beziehen sich auf den radioaktiven Niedrigdosisbereich und führen innerhalb von Jahrzehnten u.a. zu Krebs oder Herz-Kreislauferkrankungen. Hierüber sprechen wir, wenn wir die Gefährdung der Bevölkerung um Tschernobyl oder im Distrikt Fukushima medizinisch beurteilen. Der biologische Wirkmechanismus ist hier die durch Strahlung verursachte Zellmutation, die noch eine Zeitlang kompensiert werden kann. Das besondere hierbei ist: Es gibt keine Schwelle, unter der diese Einwirkung nicht stattfindet. Es gibt also keine unschädlichen radioaktiven Strahlendosen. Es gibt nur ein jeweils variables Risiko, eine der möglichen Folgeerkrankungen zu entwickeln.
KOMPAKT: Welche Rolle spielen dabei der oxidative Zellstress und Chromosomenaberrationen? Welche Krankheiten kann dieser Wirkmechanismus auslösen?
JÖRG SCHMID: Oxidativer Stress ist eine Art übergeordnetes Geschehen auf zellulärer Ebene, welches auch zu DNA-Schädigungen führen kann. Für die radioaktive Strahlung sind diese in Form der Chromosomenaberrationen nachgewiesen. Vorgeburtlich führen sie zu Missbildungs-Syndromen der Neugeborenen, nachgeburtlich zu unterschiedlichen Krebserkrankungen wie Leukämien oder auch zu Herz-Kreislauferkrankungen. Es kommt dabei auch spezifisch auf das jeweilige radioaktive Isotop an, wo es sich im Körper anreichert, wie lange es dort strahlt und welche Strahlungsart von ihm ausgeht. Insbesondere bei Kindern kann Schilddrüsenkrebs durch das bei nuklearen Unfällen anfallende radioaktive Jod hervorgerufen werden, welches in die kindliche Schilddrüse eingebaut wird.
KOMPAKT: Wenn Sie jetzt die ATHEM-3 Studie lesen, welche Gesundheitsrisiken sehen Sie da durch die nicht-ionisierende Strahlung des Mobilfunks?
JÖRG SCHMID: Die Athem 3-Studie hat gezeigt, dass auch durch eine Mobilfunk-Langzeitbelastung ähnliche Chromosomenaberrationen beim Menschen hervorgerufen werden können wie bei der radioaktiven Niedrigstrahlung. Dieses Studienergebnis steht nun statistisch eindeutig fest – zwar bei einer kleinen Untersuchungsgruppe, die aber jeweils aufwändig innerhalb eines Zeitraumes von 5 Jahren begleitet wurde.
Wenn eine Chromosomenaberration vorliegt, können ähnliche Erkrankungen auftreten, wie sie für die radioaktive Niedrigstrahlung beschrieben sind. Radioaktive oder elektromagnetische Strahlung sind aber nicht die einzigen Auslöser für DNA-Schädigungen: Sie können auch durch eine Vielzahl weiterer Risikostoffe, insbesondere chemische Stoffe, Nikotin oder auch Mikroplastik, ausgelöst werden und sich jeweils wechselseitig in ihrer schädlichen Wirkung verstärken.
„Bei Chromosomenaberrationen können ähnliche Erkrankungen wie bei radioaktiver Niedrigststrahlung auftreten.“
KOMPAKT: Überrascht Sie das Ergebnis dieser Studie? Immerhin sind die Langzeitwirkungen, so die Autoren, ja ähnlich wie die Wirkungen der radioaktiven Niedrigstrahlung
JÖRG SCHMID: Ehrlich gesagt, nein. Die weltweite Studienlage zur elektromagnetischen Strahlung hat aus meiner Sicht bereits in der Vergangenheit eindeutige Hinweise auf deren Langzeitwirkung auf Mensch und Tier erbracht. Die österreichischen ATHEM-Studien reihen sich seit 2009 hier ein. Nicht umsonst ist Mobilfunk durch die WHO 2011 bereits als potenziell krebserregend eingestuft – und dabei wird es nicht bleiben können, eine Höherstufung des Krebsrisikos wird aus meiner Sicht kommen müssen.
KOMPAKT: Nun sagen die Autoren der ATHEM-3 Studie, die Schädigungen würden weit unterhalb der IAEO-Grenzwerte eintreten. Schützen diese Grenzwerte vor elektromagnetischer Strahlung?
JÖRG SCHMID: Die aktuell vorliegenden Mobilfunk-Grenzwerte beziehen sich ja nur auf die anerkannten wärme-bedingten Wirkungen der Mobilfunk-Strahlung. Es muss also erst noch durchgesetzt werden, dass die Grenzwerte zukünftig auch die nicht-wärme-bedingten Wirkungen, wie es die jetzt nachgewiesenen chromosomalen Schädigungen sind, berücksichtigt.
Ein Blick auf die Historie der Grenzwert-Festlegung für Radioaktivität durch die IAEO (Internationale Atomenergie-Organisation) macht deutlich: Man braucht einen langen Atem, bis Grenzwerte korrigiert werden. Denn zunächst steht immer im Vordergrund, dass ein Grenzwert die jeweilige technologische Entwicklung nicht ausbremsen darf.
Das absolute Risiko für die biologische Wirkung von Radioaktivität musste so über die Jahrzehnte seitens der IAEO immer nach oben korrigiert werden. Grenzwerte sind der wissenschaftlichen Entwicklung anzupassen – auch wenn das die jeweilige Industrie nicht hören will und es oft Jahre braucht, bis sich kritische Wissenschaft durchsetzt.
KOMPAKT: Wie würden Sie nach der ATHEM-3 Studie und Ihrer guten Kenntnis der Studienlage der ionisierenden als auch der nicht-ionisierenden Strahlung, von der letzteren wird ja inzwischen jeder Mensch intensiv bestrahlt, das Risikopotential der Mobilfunkstrahlung bewerten?
JÖRG SCHMID: Die Studienautoren, so lese ich es, sind gerade angesichts der explodierenden Digitalisierung unseres Alltags besorgt über die möglichen Langzeitfolgen der elektromagnetischen Strahlung. Dem schließe ich mich an. Zudem stimmen mich die psychischen Folgen der Digitalisierung auf unsere sozialen Bindungen und auf die seelisch-mentale Entwicklung unserer Kinder sehr nachdenklich.
(1) Biologischer Grenzwert: Bezieht sich auf die Konzentration von Stoffen im menschlichen Körper, um die Gesundheit der Arbeitnehmer am Arbeitsplatz zu schützen.
Technische Grenzwerte der 26. BImSchV: Beziehen sich auf die Emissionen elektromagnetischer Felder in der Umwelt, um die Allgemeinbevölkerung vor möglichen gesundheitlichen Gefahren zu schützen.
Zweitveröffentlichung
Erstveröffentlichung in der Zeitschrift „Kompakt“ von diagnose:funk e.V.
Weitere Infos:
- Vollständiger Artikel und weitere Informationen
- Das Interview mit Quellenangaben mit Dr. Jörg Schmid (IPPNW)
- Das Interview mit Quellenangaben mit Prof. Dr. med. Wilhelm Mosgöller
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