Bionik und Baubiologie

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In der Bionik werden von der belebten Natur ausgebildete Strukturen und Prozesse erforscht und die so gewonnenen Erkenntnisse auf Produkte oder auch Bauweisen รผbertragen. Die Bionik (BIOlogie + TechNIK) ist eine interdisziplinรคre Wissenschaft, in der u.a. Biologen, Physiker und andere Naturwissenschaftler mit Ingenieuren, Architekten und Designern zusammenarbeiten. Baubionik oder Architekturbionik, die auch als โ€žnatรผrliches Bauenโ€œ bezeichnet wird, gilt als Teilbereich der Bionik und auch der Baubiologie.

Autor
Peter Reinhardt

Peter

Reinhardt

Inhaber einer Baubiologischen Beratungsstelle IBN und der Firma bionik in Kรถnnern Trebnitz (Saale)

Erst seit Ende des 20. Jahrhunderts werden die besonderen funktionalen Eigenschaften unserer natรผrlichen Umgebung untersucht und nutzbar gemacht. Allerdings hatten Menschen aus den Erfahrungen im Umgang mit der Natur auch schon viel frรผher Systeme entwickelt, die ihnen das Leben erleichterten: die Bewรคsserung durch das Anlegen von Terrassenfeldern, die Nutzung des Windes zur Trennung von Spreu und Weizen oder eine natรผrliche Klimatisierung mit Aufwindkรผhlung durch den Bau von Erdhรคusern in heiรŸen Regionen oder die Hypokaustenheizung, die man schon im Rรถmischen Reich kannte.

Was der Mensch mit viel Know-how aus verschiedenen Fachbereichen wie Architektur und Mechatronik sowie mit der Zuhilfenahme der Digitalisierung entwirft, hat die Natur womรถglich bereits besser entwickelt. Blรผten รถffnen und schlieรŸen sich je nach Witterung, Bรคume passen ihren Wuchs der Umwelt an, manche Pflanzen lassen nicht ein Staubkorn auf ihrer Oberflรคche landen. Diese biologischen Funktionsweisen kรถnnen fรผr technische Anwendungen genutzt werden. Auch fรผr die heute gestellten Anforderungen an den Haus- und Wohnungsbau kรถnnen pflanzliche und tierische Vorbilder aus der Natur interessant sein.

1 Natรผrliches Belรผftungssystem eines Pavillon nach dem Vorbild von Kiefernzapfen

Vorbild Natur

Der Bionik liegt die Annahme zugrunde, dass die belebte Natur durch evolutionรคre Prozesse optimierte Strukturen entwickelt, von denen der Mensch lernen kann. Baubiologie ist die Lehre von den ganzheitlichen Beziehungen zwischen den Menschen und ihrer gebauten Wohn- und Arbeitsumwelt. Beachtung finden dabei vor allem gesundheitliche, nachhaltige und รคsthetische Kriterien. Das Nรผtzliche soll mit dem Schรถnen verbunden werden.

Vorbild fรผr beide Bereiche, der Baubiologie und der Bionik, ist also die Natur. Energie erzeugen und gewinnen, wรคrmen, transportieren, vergrรถรŸern (wachsen), fortbewegen, verpacken, klimatisieren, tragen, entfalten sind nur einige der Aufgaben, welche in der Natur in unzรคhligen Varianten erfรผllt werden. In evolutionรคr ablaufenden Prozessen hat die Natur Werkstoffe erschaffen und entwickelt. Sie hat also bereits Rohstoffe optimiert und erprobt.

Auch Architekten und Ingenieure haben es bei ihren Aufgaben mit einer vergleichbaren Anforderungsvielfalt zu tun, wie wir sie in der Natur finden.

Bionische Leichtbauweise

Der Panzer einer Schildkrรถte zeichnet sich durch eine optimale Festigkeit aus. Durch seine harmonische Rundung lรคsst er Flรผssigkeiten abperlen. Trotzdem ist er so leicht, dass die Schildkrรถten sogar gut damit schwimmen kรถnnen. Eine Gitterschale ist eine spezielle Tragwerks- und Dachkonstruktion, bestehend aus einer Schale, die ein flรคchiges Tragwerk bildet. Sie kann einfach oder doppelt (rรคumlich) gekrรผmmt sein und Belastungen sowohl senkrecht als auch in ihrer Ebene aufnehmen.

2 Panzer einer Schildkrรถte
3 Dachkonstruktion der Zollingerhalle des Orgelzentrum Valley

Diese Struktur machte sich der Baumeister Zollinger bereits in den 1920er-Jahren zunutze und entwickelte eine neue Dachform. Seine Spitztonnendรคcher sind vielfach im Siedlungsbau der Zwischenkriegszeit in ganz Deutschland gebaut worden. Gegenรผber dem traditionellen Satteldach mit ebenen Dachflรคchen bieten diese im Wohnhausbau Vorteile:

  • Die gewรถlbte AuรŸenform des Daches und der Verzicht auf Balken und Stรผtzen ergibt eine bessere Raumnutzung.
  • Die notwendige Menge Holz fรผr den Dachstuhl verringert sich um รผber 40 Prozent.
  • Wegen der segmentweisen Aneinanderreihung kurzer Holzstรผcke wird der Bedarf an langen geraden Bohlen verringert.
  • Die Montage des Daches ist so einfach, dass Bauherren beziehungsweise zukรผnftige Mieter bei dessen Errichtung mithelfen und somit Kosten sparen kรถnnen.
  • Diese bionische Leichtbauweise von Zollinger fรผhrte folgerichtig zur Weiterentwicklung des modernen Bauens, einer Bauart unter Verwendung von Bauelementen, Zellen, Segeln, Schalen, wie zum Beispiel das von Herbert Mรผller und Ulrich Mรผther entwickelte Hyperschalendach, von Muscheln und Vogelschwingen abgeschaut.

Fรผr den Stuttgarter Flughafen entwickelte der Architekt Meinhard von Gerkan ein neues Terminal, das von 18 Stรผtzen getragen wird. Vorbild fรผr die Stรผtzen ist der Stammaufbau von Waldbรคumen einschlieรŸlich Verรคstelungen in der Krone. Ihre Funktion ist die gleichmรครŸige Flรคchenverteilung beim Tragen des groรŸen Pultdaches. Die Halle wirkt dadurch sehr filigran.

Gebogene Strukturen kommen in der Natur in vielfรคltiger Weise vor: Spinnennetze sind durch ihre Struktur und ihr Material stabil und elastisch zugleich. Wenn es um Leichtigkeit und gleichzeitig hohe Stabilitรคt geht, kommt man an der Wabenform, wie sie Bienen und Wespen bauen, nicht vorbei. So haften Autoreifen mit einer Wabenstruktur wesentlich besser auf vereistem Untergrund. Sogar bei der Herstellung von Lampen zeigt sich eine Wabenstruktur effektiver als andere, da das Licht wenig reflektiert, aber breit gestreut wird. In der Bauindustrie werden inzwischen Platten mit Wabenstruktur angeboten, aber auch Architekten lassen sich vom Wabenmuster inspirieren.

4 Blattrippen
5 Innenansicht Stuttgart Airport, Terminal 1

Bionische Materialinspiration

In der Baubiologie interessiert allerdings nicht nur die harmonische Form, sondern vor allem das โ€žnatรผrlicheโ€œ Material. So ist beispielsweise der Klebstoff interessant, mit dem Spinnen ihre Netze befestigen. SchlieรŸlich handelt es sich um einen zu 100 Prozent biologisch abbaubaren Klebstoff.

Baubiologische Produkte und Bauweisen sollen eine gute ร–kobilanz aufweisen und in diesem Sinne nach ihrer Nutzung so gut wie mรถglich wieder in den Naturkreislauf zurรผckgefรผhrt werden kรถnnen. Beim Bauen geht es auch darum, die Sonne als Energiequelle zu nutzen und die natรผrliche Umgebung bei der Wahl der Materialien mit zu berรผcksichtigen. So sollte man fragen, was sind die ortsรผblichen historischen Baustoffe, gibt es den Baustoff aus abgerissenen Gebรคuden oder kann renaturiertes Brauchwasser an einen See oder Bach wieder abgegeben werden, kรถnnen Begrรผnungsanteile auf Dรคchern oder Fassaden neben besseren Klimaeigenschaften auch wichtig fรผr Vรถgel und Insekten werden.

Unsere Zeit verlangt nach leichteren, energiesparenden, evtl. auch mobilen, anpassungsfรคhigen Hรคusern aus mรถglichst nachwachsenden Materialien, wie Holz, Stroh, Hanf, Flachs, Jute, Schilf, Kork usw.

6 Die Fรคden hรคlt ein 100 % biologisch abbaubarer Kleber zusammen
7 Querschnitt einer Miscanthus-Pflanze โ€“ als statisch belastbarer Wรคrmedรคmmstoff nutzbar
8 Nester des Webervogels

Fazit

Die Bionik und Baubiologie tragen dazu bei, dass wir unsere Hรคuser und Wohnungen mit natรผrlichen Materialien besonders sparsam, gesund und energieeffizient bauen kรถnnen. Das Potenzial dieser jungen Wissenschaften bzw. Lehren ist groรŸ. Die Deutsche Forschungsgemeinschaft steckt in den kommenden vier Jahren fast zehn Millionen Euro in die interdisziplinรคre Forschung zur Bionik. Das selbst gesteckte Ziel: โ€žMultifunktionale, anpassungsfรคhige und gleichzeitig รถkologisch effiziente Strukturen, die die Grenzen herkรถmmlicher Baukonstruktionen weit hinter sich lassenโ€œ, so Professor Jan Knippers von der Universitรคt Stuttgart.1 Maschinen, Elektronik, Energie und sogar viele mechanische Bauteile sind รผberflรผssig, wenn das in der Baubionik entwickelte Material die gewรผnschten Funktionen รผbernimmt. So ist es ja vielleicht tatsรคchlich bald mรถglich, ein intelligentes, sparsames Haus … zu bauen. Ein Haus, in dem nicht die vom Menschen erdachte neueste Technik den Ton angibt, sondern die aus der Natur รผbernommenen, in Millionen Jahren entwickelten Funktionsweisen. โ€žDie Bionik kann man als wichtigen Teil der Baubiologie bezeichnen. Auf dieser Basis lรคsst sich noch vieles erforschen und entwickeln fรผr eine gesunde, nachhaltige und รคsthetische Wohn- und Arbeitsumweltโ€œ, so Architekt Winfried Schneider, Leiter des Institut fรผr Baubiologie + Nachhaltigkeit IBN.

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2 Kommentare

  1. Wir diskutieren gerade viel รผber digitale Lernwelten und Bildung.
    Wenn wir รผber Bildung im Sinne Humboldts als โ€œdie Formung des Menschen im Hinblick auf sein โ€žMenschseinโ€œ, das heiรŸt zu einer Persรถnlichkeit, die sich durch besondere geistige, physische, soziale und kulturelle Merkmale auszeichnetโ€ reden, kommen wir um genau diese Rรคume nicht herum.

    Antworten
  2. Ein schรถnes Beispiel zu bionischem Bauen steht auf der Buga in Heilbronn: ein Pavillon aus Holz, dessen Vorbild ein Seeigel ist. Auch hier sind ICD und ITKE der Universitรคt Stuttgart Mit-Planer. Bis zum 06.10.19 ist der 30 m รผberspannende, aus 400 Teilen gefertigte Pavillon auf der Buga zu besichtigen.

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Titelbild: ICD Universitรคt Stuttgart
Bild 1: ICD Universitรคt Stuttgart
Bild 3: Mtag, Lizenz CreativeCommons CC0 1.0
Bild 5: Der Messer, Lizenz CreativeCommons CC BY 3.0

1) biokon.de/news-uebersicht/dfg-foerdert-baukonstruktionen-nach-dem-vorbild-der-natur/

Autor
Peter Reinhardt

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Inhaber einer Baubiologischen Beratungsstelle IBN und der Firma bionik in Kรถnnern Trebnitz (Saale)

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