
Interview mit Dr. Ipek Ölcüm vom Industrieverband Lehmbaustoffe e.V.
Warum wurde der IV Lehm gegründet?
Den unternehmerischen Gründungsmitgliedern war es ein Anliegen, die industrielle Dimension des Bauens mit Lehm und Lehmbaustoffen in die Sichtbarkeit zu tragen und an der Beseitigung bestehender Hindernisse zu arbeiten.
Was hat Sie an der Geschäftsführung des IV Lehm gereizt?
Gereizt hat mich zum einen, die Strukturen des Verbandes neu aufzubauen und mit den Unternehmen zu gestalten. Zum anderen ist der Baustoff Lehm sehr faszinierend und hat m.E. das Potenzial, die Bauwirtschaft zu versöhnen. In diesem Sinne empfinde ich den versöhnenden Aspekt von Prof. Thomas Auer sehr zutreffend: Lernen aus der Vergangenheit unter Nutzung der Technik von Heute. (Anm. der Redaktion: Prof. Thomas Auer hat einen Lehrstuhl für Gebäudetechnologie und klimagerechtes Bauen an der TU München)
Lehmsteinproduktion
Montage eines Stampflehm-Fertigteilelements per Hebekran
Montage von Lehmplatten mit Schrauben
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Lehmsteinproduktion2
Montage eines Stampflehm-Fertigteilelements per Hebekran3
Montage von Lehmplatten mit Schrauben
Wie groß ist der derzeitige Marktanteil von Lehm und welches Potenzial sehen Sie dafür in Zukunft?
Da bewegen wir uns noch im Promillebereich. Das Potenzial ist aber gigantisch. Zumal das klimaresilientere Bauen auch mit Lowtech immer bedeutsamer wird. Und Lehm bietet mit seiner thermischen Speichermasse und Feuchtesorptionsfähigkeit überzeugende Lösungskonzepte ganz im Sinne eines Weniger ist mehr an.
Was ist nötig, um Lehmprodukte, aber auch andere baubiologische Produkte in Gesellschaft, Wirtschaft und Politik sichtbarer und erfolgreicher zu machen?
Zunächst bedarf es der Wissensverbreitung. Was geht heute schon alles mit den bereits vorhandenen Baustoffen bei den Planenden und auch bei den ausführenden Unternehmen. Die Investoren denken an die Zukunftsfähigkeit ihrer Investitionen und gebauten Projekte. Für Produkte wie Lehm ist auch wichtig, dass sie ihr z.T. kursierendes kontraproduktives Image wie z.B. in Richtung „Luxusprodukt“ oder Baustoff aus der „Steinzeit“ ablegen. Denn preislich sind beispielsweise der Lehmputz und Lehmsteine durchaus konkurrenzfähig. Lehmsteinmauerwerk – das ist vielen noch nicht bekannt – hat neben den Produktnormen für Lehmstein und Lehmmörtel seit Mitte letzten Jahres auch eine Bemessungsnorm (DIN 18940:2023:06), auf dessen Basis man lasttragend bis 13 Meter Höhe – also Gebäudeklasse 4 – bauen kann. Das ist meines Erachtens ein Gamechanger, den wir noch viel kommunizieren wollen. Oder Planblöcke bis zu 16 DF (also 247 x 49 0x 249 mm) aus Lehm, formgepresst und mit Lehm-Dünnbettmörtel gemauert. Alles keine Zukunftsmusik – sondern bereits realisiert.
Welche Lehmbauweisen bzw. -techniken werden größere Marktanteile erobern und welche eher nicht?
Die Zeiten sind herausfordernd: Einerseits müssen wir klimaverträglich bauen/sanieren und andererseits muss alles schnell gehen und bezahlbar bleiben. Daher gehe ich davon aus, dass alles, was industriell und wirtschaftlich darstellbar ist, den Weg in die Masse des künftigen Bauens finden wird, wie z.B. Baustoffe oder Bauteile, die vorgefertigt angeliefert werden können. Hierzu als Beispiel Geschossdecken, die rund 30 % des Kohlendioxids bei Gebäuden in Betonbauweise verursachen. Werden stattdessen Holz-Lehm-Decken verbaut, wie beispielsweise beim Verband für ländliche Entwicklung in Tirschenreuth, sparen Sie damit nicht nur Kohlendioxidemissionen ein, sondern tun auch was fürs Raumklima und die Zirkularität des Bauteils. Auch Stampflehmwände oder Wände aus Mauerwerk werden heute vorgefertigt und bei wachsender Nachfrage wird es auch kostentechnisch darstellbar. Große Tragkonstruktion aus Stampflehm werden zwar aktuell häufig publiziert, sind allerdings in der Herstellung noch zu zeit- und personalaufwendig (Stand heute). Gut möglich, dass sich das mit fortschreitender Robotik und Automatisierungstechnik ändert.
Holz-Lehmstein-Decke
Freilichtmuseum Detmold mit Wänden aus Stampflehm
Holz-Lehm-Haus in Bad Aibling
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Holz-Lehmstein-Decke5
Freilichtmuseum Detmold mit Wänden aus Stampflehm6
Holz-Lehm-Haus in Bad Aibling
Kleinere Lehmbaufirmen oder Handwerker*innen sehen die industrielle Lehmproduktion als Konkurrenz. Ist diese Befürchtung berechtigt?
Unser Ansatz ist, dass die gewaltigen Herausforderungen, um ins nachhaltige Bauen zu kommen nur gemeinsam bewältigbar sind und die industrielle Dimension brauchen. Daher sind wir auch gleich mit unserer Gründung Mitglied beim Dachverband Lehm (DVL) geworden, um die Arbeit des DVL zu unterstützen. Wir stimmen uns bei vielem ab. Auf diese Weise konnte ich bei der neunten vom DLV durchgeführten Internationalen Fachtagung LEHM 2024 viele gute Gespräche mit Handwerker*innen führen. Wir reden offen miteinander und ich glaube, dass bereits ein vertrauensvoller Umgang gewachsen ist. Letztendlich ist es so: Sobald mehr Lehmbaustoffe hergestellt und verkauft werden, braucht es auch mehr Handwerker / Lehmbaufirmen, die diese verarbeiten oder vertreiben. Und mit Blick auf das bereits angesprochene Wachstumspotenzial von Lehmbauprodukten und -bauweisen ist sicherlich noch genug Platz für alle da.
Deutschland ist unseres Wissens Pionier im modernen Lehmbau. Wie sieht es aktuell international aus?
Deutschland ist hier tatsächlich – allein mit seiner Normung – schon sehr weit. Aber auch darüber hinaus: Nehmen Sie die Neuentwicklung des Lehmdünnbettmörtels, der ein wirtschaftlicheres Mauern im Vergleich zum Lehmdickbettmörtel, aber auch ein sortenreines Bauen ermöglicht: Werden Wandbaustoffe wie Ziegel und Kalksandstein mit Lehmdünnbettmörtel geklebt, bleiben sie aufgrund der Wasserlöslichkeit des Lehms sortenrein rückbaubar. Oft wird neugierig aus anderen Ländern auf die Entwicklungen in Deutschland geschaut. Wir stehen gerne mit unserer Expertise zur Verfügung. So auch demnächst wieder bei einem digitalen Impuls auf einer Veranstaltung organisiert vom „Climate Lab“ in Österreich.
Der Ziegelhersteller Schlagmann/Poroton hat mit dem „Lehmbloc“ begonnen, neben gebrannten Ziegeln auch ungebrannte Ziegel anzubieten. Sehen Sie das als Startschuss einer sinnvollen Koexistenz zwischen gebrannten Ziegeln und ungebrannten Lehmprodukten?
Unbedingt! Leipfinger-Bader, innovativer Ziegelhersteller aus Bayern, ist einer der Initiatoren für die Gründung des IV Lehm und stellt auch Lehmbaustoffe und Lehmbauteile her. Ziegel und Lehm gehen hier Hand in Hand; gleiches gilt übrigens auch für den Kalksandstein. Eines unserer Mitglieder ist die Kimm Baustoffe GmbH & Co. KG, die unter der Marke Conclay u.a. formgepresste Planblöcke aus Lehm herstellen. Sowohl der Ziegel als auch der Kalksandstein sind sehr gute Wandbaustoffe. Der Lehm ergänzt mit seinen hervorragenden Eigenschaften.
Vorteile des Baustoffs Lehm
Lehm ermöglicht ein ökologisches, klimaresilientes und gesundes Bauen/Sanieren, weil
- energiearm in der Herstellung
- kreislauffähig (replastifizierbar)
- wiederverwendbar
- Rohstoff Lehm regional verfügbar
- thermische Speichermasse (wesentlich fürs Lowtech-Bauen)
- feuchteregulierend
- schadstoffabsorbierend
- wärmespeichernd
- sommerlicher Wärmeschutz
- schalldämmend
Welche Kooperationsmöglichkeiten sehen Sie zwischen dem IV Lehm sowie dem IBN und den Baubiologischen Beratungsstellen IBN?
Wir sind offen für Vorschläge. Sicherlich verbindet uns sehr stark die Wohngesundheit und der Nachhaltigkeitsgedanke. Deshalb bin ich zuversichtlich, dass sich gemeinsame Wirkräume ergeben werden.
Bitte erzählen Sie uns ein bisschen was von Ihrem Arbeitsalltag? Was sind Ihre Aufgaben? Welche Kontakte suchen und finden Sie? Auf welche Reaktionen stoßen Sie?
Meine Aufgaben sind sehr vielseitig. Ich spreche mit Akteuren der Bauwirtschaft, der Politik und der Behörden, um unseren Baustoffen/Bauteilen Sichtbarkeit zu geben. Führe Gespräche und Interviews wie dieses, halte Vorträge bringe Akteure im Sinne des Bauens und Sanierens mit Lehm zusammen. Dabei bin ich offen für alle am Bauen mit Lehm Interessierte, rede aber auch sehr gerne mit denen, die noch Vorbehalte gegen die Verwendung haben.
Was fasziniert Sie am Baustoff Lehm persönlich am meisten?
Mich fasziniert zunächst, dass der Lehm unbegrenzt kreislauffähig und energiearm in der Herstellung ist. Und je mehr ich mich mit dem Baustoff befasse, begeistern mich die bauphysikalischen Eigenschaften. Und ich finde auch spannend, dazu beitragen zu dürfen, dass der Lehm zunehmend nachgefragt wird und so mehr Menschen in den Genuss all seiner Vorteile kommen.
Kurzvorstellung des Industrieverband Lehm e.V. (IV Lehm)
Gründung: Ende 2022 in Berlin
Mitglieder: 21 (Stand 1/2025) – überwiegend Unternehmen
Vorstand: Lea Hart mit den Stellvertretern Maximilian Breidenbach und Thomas Bader
Mehr Infos: www.iv-lehm.de und bei LinkedIn
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