Gründerzeithaus gerettet
Nach 30 Jahren Leerstand war das 1910 auf dem Chemnitzer Sonnenberg errichtete Mehrfamilienhaus in einem desolaten Zustand: Das Dach war undicht, die Geschossdecken waren teilweise durchgebrochen und nur das steinerne Treppenhaus hielt die Bauruine noch einigermaßen stabil. Dennoch erwarben die Münchner Architekten Annette Fest und Christian Bodensteiner das Gebäude gemeinsam mit einem befreundeten Politologen im Rahmen einer Zwangsversteigerung. Als Profis erkannten sie das Potenzial, das darin steckte: “Das Gebäude hatte mit drei Metern eine großzügige Geschosshöhe vorzuweisen, dazu eine gute Grundrissstruktur und erhaltenswerte Grundsubstanz“, erklärt Christian Bodensteiner.
Ressourcenschonend und nachhaltig
Die Architekten verstehen den Baubestand als Ressource, “die hilft, viel graue Energie und CO2 einzusparen. Es ist wichtig, das Vorhandene mit einem starken Konzept und in hoher gestalterischer Qualität weiterzuentwickeln. Denn nur wenn das Gebäude auch in 50 oder 80 Jahren noch berührt, wird es nicht abgerissen, sondern erneut weiterentwickelt“, beschreibt Bodensteiner ihre Philosophie. Letztendlich geht es um Dauerhaftigkeit. Deshalb legen sie Wert auf langlebige, möglichst pure Materialien, die im Gegensatz zu Verbundwerkstoffen rückbaubar und idealerweise sogar wiederverwendbar sind, beispielsweise auf Bodenbeläge wie Massivparkett, das sich oft abschleifen lässt, auf Grundrisse und Räume, die flexibel nutzbar und an neue Anforderungen anpassbar sind.
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Umgeben von originalgetreu sanierten Gründerzeithäusern hebt sich das Gebäude in der Chemnitzer Gießerstraße mit seiner rötlichen Backsteinfassade ab2
Selbst die Architekten benötigten eine immense Vorstellungskraft, um zu erkennen, was aus dieser Ruine einmal entstehen könnte3
Der Blick nach oben zeigt das ganze Ausmaß der Zerstörung nach 30 Jahren Leerstand4
Nach Austausch der Geschossdecken wurden die Wohnungseingangstüren wieder an alter Stelle eingebaut. Das Treppenhaus zeigt noch viel Original-Bausubstanz
Originale Bausubstanz
Auch in Chemnitz wählten sie das ergänzend zur originalen Bausubstanz eingesetzte Material unter baubiologischen und ökologischen Gesichtspunkten aus. So wurden beispielsweise die maroden Holzdecken schachbrettartig Raum für Raum gegen Ziegel-Einhängedecken ausgetauscht, die den heutigen Schallschutzanforderungen entsprechen. Die Ziegel im Reichsformat wiederum, die unter dem Putz zum Vorschein kamen, konnten erhalten werden und wurden zum Leitmotiv der Sanierung und gaben der “Casa Rossa” ihren Namen.
Ziegel mit Vergangenheit
Die Backsteine prägen nicht nur die Straßenfassade, sondern sind auch im Treppenhaus und in den Wohnungen präsent. Für die Aufstockung wurde das Treppenhaus im Sinne des zirkulären Bauens mit recycelten Originalziegeln neu aufgemauert. Diese stammen von einem alten Waschhaus, das im Innenhof des Gebäudekomplexes stand.
Mit Ausnahme von geringfügigen Anpassungen wurde die Fassade lediglich neu verfugt. Eine helle Lasur nivelliert die Unterschiede in den Ziegelfarben und verleiht dem originären, rohen Material eine gewisse Noblesse, ohne die vorhandenen Unregelmäßigkeiten und Verletzungen zu übertünchen. Die Spuren der Vergangenheit sollten bewusst erkennbar bleiben. Allerdings mussten die Fugen und damit auch die Steine hydrophobiert, also mit einem wasserabweisenden Mittel behandelt werden.
Moderner Wohnraum mit gründerzeitlichem Flair
Insgesamt entstanden durch die Sanierung sechs moderne Wohneinheiten von 46 bis 168 Quadratmeter mit je eigener Atmosphäre. So kommen im sogenannten „Brick Loft“ die alten Ziegel in ihrer rauen Optik im großen Wohnraum sowie im Flur voll zur Geltung. Das freigelegte Sichtmauerwerk wurde hier weder verputzt noch neu verfugt, sondern nur hell lasiert. Eine andere Wohnung wurde komplett mit restaurierten Zimmertüren aus dem Bestand bestückt. Das als Neubau ausgeführte Dachgeschoss wiederum beherbergt eine Maisonettewohnung auf zwei Ebenen. Hier schlagen einzelne, aus den recycelten Backsteinen gemauerte Wandelemente die Brücke zum Bestand.
Wertschätzung alter Handwerkskunst
Die Bewohner betreten ihre Wohnungen durch die gleichen Türen wie ihre Vorgänger seit über hundert Jahren. „Die alten Wohnungstüren waren einfach schön. Obwohl sie verzogen und die Gläser in Scherben waren, sah man, dass da echte Handwerkskunst dahintersteckte. Zusammen mit dem weitgehend noch intakten Treppenhaus ergab sich ein total stimmiges Bild“, erinnert sich Annette Fest: „Wir gaben sie deshalb einem Schreiner zum Verspannen, der die Türblätter nach dem Trocknen auch wieder aufbereitet und die neuen, modernen Glasscheiben eingesetzt hat.“
Im Treppenhaus findet sich ebenfalls noch viel Originales: die Steinstufen, die Terrazzoböden auf den Treppenpodesten oder das Treppengeländer aus Schwarzstahl mit seinem Handlauf aus Holz. Die Patina wurde erhalten und beides geölt.
Zeitgemäßer Energiestandard
Die straßenseitig bis zu 60 Zentimeter dicke, monolithische Ziegel-Außenwand blieb ungedämmt. Jedoch wurden die neuen, dreifach verglasten Fenster mit gedämmten Zargen ausgestattet, um Wärmebrücken zu vermeiden. Die Seitenwände bedürfen keiner Wärmedämmung, da das Gebäude als Teil einer Blockrandbebauung an beheizte Gebäude grenzt.
Die hofseitige Außenwand wurde mit Mineralwolle gedämmt und mit einem mineralischen Dickschichtputz versehen. „Das war zwar teurer als ein billiges Wärmedämmverbundsystem, ist aber langlebiger und hat außerdem eine deutlich bessere Ökobilanz“, sagt Architekt Bodensteiner – ein Aspekt, der den nachhaltig denkenden Bauherren die Mehrkosten wert war.
In Kombination mit dem neuen, sehr gut gedämmten Dach wurden die geforderten Werte für ein KfW-Effizienzhaus 100 erreicht. Einen weiteren Beitrag zur Energieeffizienz leistet die sehr engmaschig verlegte Fußbodenheizung. Dadurch lässt sich die Heizungs-Vorlauftemperatur reduzieren. Das kommt der Effizienz der Solarthermieanlage entgegen, die neben der Unterstützung der Heizung auch das Brauchwasser erwärmt.
Der Mut hat sich gelohnt
“Ich hätte nicht gedacht, wie gut unser Haus auch in der Bevölkerung ankommt, obwohl es ja in seiner Radikalität durchaus polarisieren kann“, zeigt sich Annette Fest fast überrascht von der durchweg positiven Resonanz. Denn auch in der Fachwelt kamen dieser Mut und diese Kompromisslosigkeit an. Die Architekten konnten sich bislang über stolze elf Auszeichnungen und Preise für ihr Experiment einer ganzheitlichen, nachhaltigen Sanierung freuen. Darunter der dritte Platz beim KfW Award Bauen 2021 in der Kategorie Bestand.
Wohnungs- und Zimmertüren aus dem Bestand – das Bad rechts und das geölte Eichenparkett aus der Moderne: ein Zusammenspiel, das perfekt funktioniert
Auch die neue Maisonettewohnung unterm Dach wurde mit recycelten Ziegeln versehen. Die Treppe führt auf die zweite Ebene und zur Dachterrasse
Ein Traum von Raum. Im „Brick Loft“ erzeugt das Zusammentreffen von Alt und Neu einen Wow-Effekt
Originalziegel aus einem abgebrochenen Nebengebäude ergänzen die originale Bausubstanz des Gründerzeithauses
Die gedämmten Zargen der Fenster wurden entwickelt, um auf den zunächst vom Bauphysiker geforderten Dämmputz verzichten zu können
Moderner Wohnraum im gründerzeitlichen Ambiente
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Wohnungs- und Zimmertüren aus dem Bestand – das Bad rechts und das geölte Eichenparkett aus der Moderne: ein Zusammenspiel, das perfekt funktioniert6
Auch die neue Maisonettewohnung unterm Dach wurde mit recycelten Ziegeln versehen. Die Treppe führt auf die zweite Ebene und zur Dachterrasse7
Ein Traum von Raum. Im „Brick Loft“ erzeugt das Zusammentreffen von Alt und Neu einen Wow-Effekt 8
Originalziegel aus einem abgebrochenen Nebengebäude ergänzen die originale Bausubstanz des Gründerzeithauses9
Die gedämmten Zargen der Fenster wurden entwickelt, um auf den zunächst vom Bauphysiker geforderten Dämmputz verzichten zu können 10
Moderner Wohnraum im gründerzeitlichen Ambiente
Baudaten
Umbau, Sanierung und Aufstockung eines Mehrfamilienhauses in Chemnitz
Baujahr | 1910 |
Sanierung | Kauf 2016, Sanierung 2018 bis 2020 |
Bauherren | Christian Bodensteiner, Annette Fest, Daniel Stroux |
Wohnfläche | 6 Wohnungen von 46 bis 168 m² |
Fassade Straßenseite | 40 bis 60 cm ungedämmte, monolithische Backsteinfassade, unverputzt, hell lasiert und zusätzlich hydrophobiert | Holzfenster mit Dreifachverglasung, gedämmte Zargen |
Fassade Hofseite | 40 bis 60 cm Ziegelmauerwerk mit 12 cm Mineralfaserdämmung | 3-fach verglaste Holzfenster | Kalkputz |
Dach | 28 cm Zellulose-Einblasdämmung | Holzdachstuhl aus heimischen Hölzern | Dachkonstruktion hinterlüftet | Holzweichfaserplatte | Bitumenschindeleindeckung |
Decken | Ziegeleinhängedecke | Heizestrich |
Innenmaterialien | Böden geöltes Eichenmassivparkett | Treppenhaus Original-Terrazzoböden | Ziegel | Beton | Glas |
Wiederverwendung | Wohnungseingangstüren, Zimmertüren, Ziegel |
Heizung | Gasbrennwertkessel | Fußbodenheizung |
Solarthermieanlage | Anteil zur Trinkwasseraufbereitung 63 % | Anteil zur Heizungsunterstützung 28 % |
Energiestandard | KfW-Effizienzhaus 100 |
Architekten | bodensteiner fest Architekten BDA Stadtplaner PartGmbB, München, www.bodensteiner-fest.de |
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