Saftfabrik gemeinschaftlich umgenutzt

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Die Genossenschaft Uferwerk hat in einer denkmalgeschรผtzten Saftfabrik รถkosozialen Wohnraum geschaffen. Heute leben am Ufer des groรŸen Zernsees 170 Erwachsene und Kinder solidarisch miteinander. Auch Ukrainer*innen sind dabei.

Autor

Achim

Pilz

freier Journalist, Kurator, Juror und Berater, Baubiologe IBN und Chefredakteur des Baubiologie Magazin.

Auf dem Gelรคnde der Bau- und Wohngenossenschaft Uferwerk eG wird gebaut und saniert. Ein junges Architekten-Team hat Haus 15 zum Gemeinschaftshaus umgeplant. Viele verwendete Materialien und Ideen sollen einen experimentellen und innovativen Ansatz haben. Die Fertigstellung ist fรผr Ende 2022 geplant.

Auch sonst ist hier immer was los: Kinder spielen, Bewohner*innen pflegen ihren essbaren Garten, man trifft sich zu einem Plausch. Im Sommer ist das Ufer bevรถlkert. Im Winter eher der Bewegungsraum, die Werkstรคtten oder an Sonntagen das Atrium zum gemeinsamen Frรผhstรผcken. Mitunter gibt es Veranstaltungen wie die mobile Sauna am See oder Themenfeste wie das gemeinsame Sommerfest, das besonders die Kinder lieben.

Genossenschaft fรผr ร–kologie

Die Genossenschaft wurde 2011 gegrรผndete, um โ€žWohn- und Lebensraum fรผr generationenรผbergreifende, sozial gemischte, nachbarschaftliche Wohnformen in mรถglichst รถkologischen und energieeffizienten Gebรคuden zu schaffenโ€œ. 2014 รผbernahm die Genossenschaft das Gelรคnde und die teilweise stark heruntergekommenen Gebรคude einer alten Saftfabrik in Werder an der Havel, in der Nรคhe Potsdams. Das 17.300 mยฒ groรŸe Grundstรผck liegt direkt am groรŸen, von der Havel durchflossenen Zernsee und hat Zugang zu Uferbereichen, Bootssteg und Bademรถglichkeiten. Die alte Fabrik von 1870 steht unter Denkmalschutz. Die Architektinnen Karin Winterer und Irene Mohr nutzten sie bis 2017 denkmalgerecht um und bauten neu โ€“ insgesamt 65 Wohnungen. Die Planerinnen haben das dank รผber 30โ€jรคhriger Erfahrungen aus Baugemeinschaftsprojekten in Altbauten mit Bravour gelรถst. Heute gibt es in der Industriearchitektur samt ihrem besonderen Charme Einzel- und Familienwohnungen fรผr 105 Erwachsene und 65 Kinder.

Sozial optimiert

Um ein Projekt dieser GrรถรŸenordnung entwickeln zu kรถnnen, nutzte Irene Mohr auch Erfahrungen der Stiftung Trias, einer auf die Themen Boden, ร–kologie und gemeinschaftliches Wohnen spezialisierten Bรผrgerstiftung. Die Stiftung erwirbt Grundstรผcke, vergibt sie im Erbbaurecht weiter und entzieht sie so der Spekulation. So kรถnnen sie dauerhaft sozial und รถkologisch genutzt werden. Mohr ist dort seit 2008 aktives Mitglied. Auch fรผr die Bewohner*innen des Uferwerks spielen neue Formen der ร–konomie und des Zusammenlebens die Hauptrolle. In der Ukrainekrise unterstรผtzte sie Geflรผchtete aus den vom Krieg zerstรถrten Gebieten. Die Klimawerkstatt Werder, auf dem Gelรคnde in einer einfach sanierten Halle untergebracht, bot spontan tรคglich Vernetzungsmรถglichkeiten unter Ukrainer*innen mit Kaffee und Kuchen an. Zudem veranstaltet sie regelmรครŸige Reparatur-Treffs und betreibt Nรคh-, Holz-, Metall- und Fahrradwerkstรคtten. Der gemeinnรผtzige Verein Halle 36 im gleichen Gebรคude realisiert Bildungsangebote im Bereich Kunst, Do it yourself und Umweltschutz. Zudem gibt es AGs, fรผr Bau, Energie, Mobilitรคt, Food-Coop und Moderation, die Projekte wie ein Saunaboot, den Steg oder den Garten fรผr die Genoss*innen entwickeln. Die Food-Coop organisiert die Versorgung mit Bio-Lebensmitteln aus solidarischen Landwirtschaften. Die AG Mobilitรคt betreibt nachbarschaftliche Car-, Lastenrad- und ร–PNV-Ticket-Sharing. Professionell durch ein Buchungs- und Abrechnungstool unterstรผtzt, kann so auch das private Auto gemeinsam genutzt werden. Eine AG organisiert in den Kellerrรคumen einen Umsonstladen, in dem man vom Beamer bis zu Kinderschuhen alles gebraucht und manchmal sogar neu kostenlos bekommt. Zudem gibt es direkte nachbarschaftliche Engagements und immer wieder verschiedenste Themen-Hausfeste sowie Kultur- und Diskussionsabende. Fรผr die Kinder gibt es fรผnf Kuschelhรผhner.

1 Lebensqualitรคt im Uferwerk: Hรคuser 7, 8 und 17 (ertรผchtigt) umschlieรŸen den Wohnhof, der sich zum See รถffnet. Haus 11 wurde aufgestockt, Hรคuser 12, 28 und 42 auf erhaltenen Fundamenten neu erstellt. Halle 36 erhielt eine AuรŸendรคmmung
2 Fรผr die sozialen Medien versammelten sich fast alle der 170 Genoss*innen
3 Zustand, nach der รœbernahme der denkmalgeschรผtzten Saftfabrik von 1870
4 Zugang zu der รถkologisch weiter gebauten und umgenutzten Fabrik
5 Im Turm wurden ehemals die Schlรคuche getrocknet. Heute sind dort Gemeinschaftsrรคume
6 Am รถstlichen Ende des Gebรคudes war eine angebaute Trafostation. Sie wurde mit neuen Materialien im gleichen Volumen ersetzt
7 Moderne Bauten verjรผngen die Backsteinfabrik: รถkologisches Raumklima ergรคnzt den Charme von hohen Rรคumen

Denkmal- und Umgebungsschutz

Die Fabrik wurde bis zum Verkauf 2014 als Schaltgerรคtewerk genutzt. Das Hauptgebรคude mit dem Turm steht unter Denkmalschutz. Seine ockerfarbene Klinkerfassade, die durch rote Bรคnder sowie Fenster- und Tรผrstรผrze gegliedert ist, darf nicht beeintrรคchtigt werden.

Fรผr die spรคter erstellten Nebengebรคude wie Haus 12, 28 und 42, die Trafostation an Haus 17 und Haus 15, das als Garagenkomplex in den 50er und 60er Jahren errichtet worden war, sind die Regeln nicht so streng. Sie unterliegen dem so genannten Umgebungsschutz. So konnten diese heruntergekommenen Bauten abgetragen werden. Auf dem erhaltenen Fundament wurde die gleiche Kubatur als Wohnbauten wieder neu hergestellt. Im denkmalgeschรผtzten Turm ist heute das Gemeinschaftshaus mit Boulderwand. In die teils ungรผnstig geschnittenen Gebรคude und Neubauten planten die Architektinnen gekonnt verschiedenste Wohnungen ein – von der groรŸen WG fรผr sechs Parteien bis zum Singel-Wohnen fรผr Alte. Die Wohnungen haben Grundrisse von 25 โ€“ 250 mยฒ. Im Erdgeschoss der alten Fabrik sind sie fรผrstliche 3,60 Meter hoch. Zehn Bewohner*innen nutzen eine Gemeinschaftskรผche. Ihre Wohnungen haben keine Kรผche, allerdings vorbereitete Anschlรผsse, fรผr zukรผnftige ร„nderungen. In einem anderen Cluster teilen sich drei Familien ein erweitertes Wohnzimmer.

ร–kologische Neubauten und Altlasten

Wunsch der Genossenschaft war es, besonders nachhaltig zu bauen, zu recyceln und รถkologische Materialien wie Holz, Stroh und Lehm zu nutzen. Bei seiner Fertigstellung 2017 war Haus 28 das damals europรคisch grรถรŸte Strohballenhaus. In einem groรŸen Workshop packten auch die Genoss*innen mit an. Sie errichteten das zweigeschossige Mehrfamilienhaus mit elf Wohnungen und 1.155 mยฒ auf dem Fundament einer abgetragenen Industriehalle aus den 1930er Jahren. Auch Haus 42 wurde abgerissen und auf den Fundamenten ein neues Gebรคude in der gleichen Kubatur erstellt. Es hat ein รผberraschend groรŸzรผgiges Atrium, in dem heute Veranstaltungen stattfinden. An der Stelle einer alten Garage gibt es heute im Haus 12 zwei barrierefreie Wohnungen fรผr die beiden รคltesten Bewohnerinnen. Weiter verwertet wurden auch Fenster und Tรผren. Auch einige Altlasten wurden saniert, vom Asbest รผber alte Mineralfaserdรคmmung bis zum kontaminierten Boden unter der alten Lackierhalle. Der Boden wurde noch vom Vorbesitzer durch Sand ersetzt. Hier ist heute ein Sandplatz auf dem gespielt und gefeiert wird.

8 Im gleichen Volumen, auf alten Fundamenten neu erstellt ist auch das Atriumhaus 42
9 Halle 36 wurde nur auรŸen รผberdรคmmt und beherbergt heute zwei Vereine mit verschiedenen Werkstรคtten und Rรคumen
10 Bei seiner Fertigstellung 2017 war es damals das in Europa grรถรŸte Strohballenhaus mit zwei Geschossen und elf Wohnungen
11 Bauen als Workshop: Das Ausfachen des Holzbaus mit Dรคmmstroh lernten auch die Genoss*innen
12 Eine abbruchreife Garage wurde durch zwei barrierefreie Wohnungen ersetzt. Hier leben die beiden bald 80-jรคhrigen Damen der Genossenschaft
13 Verwandelter Altbau mit differenzierten Ansichten: Haus 11 wurde aufgestockt und die Sรผdwand auรŸen gedรคmmt
14 Gedรคmmt wurde mit AugenmaรŸ โ€“ diese dicke Mauer gar nicht
15 Die Genoss*innen renaturierten das Areal. Sie entsiegelten den Boden und bepflanzten ihn mit bunten, essbaren Gรคrten

Differenzierte Wรคrmeerzeugung  

Photovoltaikanlagen erzeugen Strom fรผr Wรคrmepumpen. Diese gewinnen Wรคrme aus der Abluft der Wohnungen, die in groรŸe Pufferspeicher eingeschichtet wird. Zugeheizt wird mit einem Pelletkessel und einem BHKW. Nahwรคrmeleitungen versorgen alle Gebรคude. Zwei vor Ort wohnhafte Ingenieure steuern die Anlage selbst, was bei ihrer Komplexitรคt eine groรŸe Herausforderung ist.

Energetisch interessant sind auch die alten Fenster der Fabrik, die zu Kastenfenstern ertรผchtigt wurden. Dabei wurden auch die Laibungen innen gedรคmmt, damit zwischen den Scheiben keine Feuchtigkeit kondensieren kann. Gedรคmmt wurde mit AugenmaรŸ. Fast alle denkmalgeschรผtzten Gebรคude erhielten eine Innendรคmmung. Haus 11 wurde zur Rรผckseite auรŸen gedรคmmt. Die sehr dicken Mauern von Haus 17 wurden gar nicht gedรคmmt.

Naturnah wohnen

Wichtiges Thema war auch die Renaturierung des Areals. Dazu wurde der Boden entsiegelt und bepflanzt. Heute blรผhen um die Hรคuser Wildblumen und heimische Pflanzen wie blutroter Storchschnabel und Golddistel. Auf kleinen Parzellen haben die Bewohner*innen bunte, essbare Gรคrten angelegt. Einzig eine sparsam bemessene FeuerwehrstraรŸe ist versiegelt. Sie ist gerade so groรŸ, dass alle Hรคuser erreichbar sind. Sie wird vielfรคltig genutzt, von Rollstรผhlen, fรผr Radrennen oder als Malflรคche. Auf dem Gelรคnde gibt es Obst, am See auch grรถรŸere Bรคume auf Wildflรคchen. Eine Gruppe legte einen Garten der Stille an, der einen Rรผckzugsort anbietet, mit schรถnen und differenziert ausgewรคhlte Pflanzen.

So ist aus der alten Saftfabrik mit viel Engagement trotz bescheidenem Budget ein lebenswertes Zuhause geworden, das neue Lebensverhรคltnisse ermรถglicht.

Baudaten

Sanierung und Weiterbauen Saftfabrik Uferwerk, LuisenstraรŸe, Werder

Baujahr1870
Sanierung2014-2017, 2022
BauherrUferwerk e.G. mit 100 Mitgliedern
Architektinnenwinterer + mohr Architektinnen
Grundstรผck17.300 mยฒ
Umbauter Raum5.300 mยฒ fรผr 65 Wohneinheiten, Umsonstladen, Food-Coop, Werkstรคtten, Coworking-Space
GebรคudeSanierter und Aufgestockter Bestand; Teilabriss und Neubau mit gleicher Kubatur โ€“ mit Strohballendรคmmung, innen mit Lehm, auรŸen mit Kalk verputzt bzw. mit Zellulosedรคmmung
Energetische MaรŸnahmenmineralische Innendรคmmung, Kastenfenster, Nahwรคrmeleitungen, Pelletkessel, gasbetriebenes BHKW, Abluft-Wรคrmepumpen, fรผnf Pufferspeicher
Quellenangaben

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Abbildungen: (1) Uferwerk e.G. | (2,3,7,11,13,14) Mirko Kubein | (4,5,6,9,12,15) Achim Pilz | (8,10) Winterer+Mohr Architektinnen

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