Ikone der Bauwende – Atelierhaus aus Strohballen
Dorothea Schrade ist eine Künstlerin im Allgäuer Leutkirch, deren Leidenschaft das Landleben und die Natur sind. Nachdem ihr einstiges Atelier abgebrannt war, erhielt sie 2023 Besuch von Adrian Hochstrasser, Gründer und geschäftsführende Partner von “hochstrasser”. gesellschaft für architektur mbh, den sie von klein auf kannte. Gemeinsam entwickelten sie die Idee, ein neues Atelier aus vorhandenen Bauteilen zu bauen – und aus Stroh.
Woher die Strohballen nehmen?
Die Ernte war schon vorbei und so gab es keine Strohballen mehr. Kurzerhand organisierte die Bauherrin Schrade die Strohballen selbst. Sie ließ große Rundballen auftrennen und zu rechteckigen Kleinballen umpressen. Die im Verbund versetzten Strohballen ergeben zusammen mit recycelten Spanngurten und den hölzernen Randbauteilen eine in sich verspannte steife und tragende Konstruktion. Diese Art einer Konstruktion, in der vorgespanntes Stroh die Tragwirkung entfaltet, ist neu und bisher einzigartig.
Konsequentes Konzept
Alle Baustoffe für das neue Atelier der Künstlerin Schrade sollten natürlicher Art oder recycelt sein, weitestgehend ohne Kunststoffe. Nur das Dach erhielt eine Bitumenfolie. „Sonst ist keine einzige Folie zum Einsatz gekommen“, betont Selina Edel, die für den Entwurf und die Organisation bei “hochstrasser” zuständig war. Frau Schrade ist überzeugt, dass Strohbau zukunftsfähig ist. Und so machte sich Frau Edel daran, über den Baustoff Stroh zu recherchieren, den sie bisher noch nicht verwendet hatte. „Ich war fasziniert davon, wie viel Strohballenbau es schon gibt“, erinnert sie sich. „Auch Gebäude, die schon sehr lange stehen.“ In Amerika wird seit über 100 Jahren mit Strohballen gebaut.
Fest eingeplant waren von Frau Schrade auch die Verwendung von Altfenstern aus Schloss Mochental. 1733 wurde das Renaissance-Schloss mit 365 Fenstern als Sommersitz der Äbte der Probstei Mochental erbaut. Bei einer umfassender Renovierung in den 1980er Jahren wurden auch die Altfenster ausgebaut und eingelagert. Zehn davon sollten 40 Jahre später nun eine neue Verwendung finden und viel Licht in das neue Atelier bringen. Auch Spanngurte und eine Haustüre wurden recycelt sowie alle Verbindungen lösbar ausgeführt.
Einfacher Entwurf
Bei “hochstrasser” wurden dazu viele Entwürfe gemacht. Schließlich entschied sich das Büro für einen fast quadratischen Grundriss mit zwei klar getrennten Bereichen: nach Westen, Norden und Osten Stroh, nach Südwesten eine Front aus fünf mal zwei übereinander stehenden Fenstern in einer sechsachsigen Holzkonstruktion. „Die Fenster sind so schön. Das Stroh muss für sich stehen“, betont Architektin Edel
Alles ist so einfach wie möglich gehalten. Auf einem Schottergrund bilden Werksteine einfache Punktfundamente. Die Strohballenwand trägt sich selbst. Das optimale Verhältnis von Wanddicke zu maximaler Höhe sei 1:7, hat Edel recherchiert und spitzt zu: „Wir haben uns getraut, oben noch eine Reihe daraufzusetzen und 1:8 gemacht.“ Spanngurte stabilisieren und komprimieren die Wand. „Es ist faszinierend, was man da beim Bauen für eine Setzung hervorrufen konnte“, staunt die Architektin. Bis jetzt insgesamt 50 cm auf weniger als drei Metern. Ein Ringanker über Strohwand und Dachgelenk sowie Holzplatten steifen das Gebäude aus.

Bei Leutkirch liegt das barocke Pfarrhaus, in dessen Garten das Atelier gebaut wurde (der Lageplan ist

Ein fast quadratischer Grundriss verbindet ein U aus Stroh mit einer aussteifenden Holzkonstruktion und einer Front aus Fenstern

Acht Lagen Strohballen bestimmen die Höhe der Rückseite. Auch die Punktfundamente sind recycelt

Zwei mal fünf Altfenster aus Schloss Mochental bilden die Südwestfassade
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Bei Leutkirch liegt das barocke Pfarrhaus, in dessen Garten das Atelier gebaut wurde (der Lageplan ist genordet)2
Ein fast quadratischer Grundriss verbindet ein U aus Stroh mit einer aussteifenden Holzkonstruktion und einer Front aus Fenstern3
Acht Lagen Strohballen bestimmen die Höhe der Rückseite. Auch die Punktfundamente sind recycelt4
Zwei mal fünf Altfenster aus Schloss Mochental bilden die Südwestfassade
Handwerkliches Bauen
Architektinnen und Architekten von hochstrasser errichteten das Atelier eigenhändig an Freitagen und Samstagen.
An insgesamt 12 Tagen waren insgesamt 25 Kolleginnen und Kollegen auf der Baustelle. „Das war eine Win-Win-Situation – für die Bauherrin und für uns als Büro“, freut sich die Architektin. „Gemeinsam etwas errichten war eine schöne Erfahrung. Jede Kollegin und jeder Kollege, der am Freitag mit dabei war, hat es in die ganze nächste Woche mitgenommen und war beseelt.“ Sie trugen Bohlen, Ballen und die übrigen Materialien von Hand auf die Baustelle. Auf ein Kiesbett legten sie gebrauchte Steine vom Bauhof als Punktfundamente unter die sechs Achsen. Auf eine Lage Dachpappe kamen dann recycelte Siebdruckplatten als luft- und dampfdichter Unterboden. Zwischen 140er Kanthölzern passten sie Stroh als Dämmung ein und legten darauf OSB-Platten. Auf einer Basis von zwei Dreischichtplatten schichteten sie die Strohballen auf. Mit gebrauchten Spanngurten aus der Logistik verdichteten sie erst die ersten vier Lagen und dann alle acht gemeinsam. Dann setzten sie die Bohlen zu Stützen zusammen und richteten sie auf. Beim Dachtragwerk war noch der Knickpunkt beweglich auszuführen, damit sich die Strohwand auch nach Bauende noch weiter senken kann. Eine historische Türe, von der Bauherrin in einem Antiquitätenladen entdeckt, wurde vom Lack befreit und kontrastiert jetzt gut mit den maschinell verarbeiteten Holzplatten.
Tritt man ein, so öffnet sich ein hoher Raum, dessen eine Seite komplett verglast ist und die einen herrlichen Ausblick in den Garten bietet. Das Innere wirkt durch die dicken, struppigen Wände stabil und beruhigend und bietet viel Platz zum Malen und Plastizieren. 2023 erhielt das Strohatelier den Hugo Häring Preis des BDA. Die Jury lobt: „Viel übereinstimmende Radikalität zwischen Bauwerk und glücklicher Bauherrin. […] Beim Eintritt fühlt man sich, als betrete man eine Kathedrale.“

Bauherrin und Künstlerin Dorothea Schrade vor ihrem neuen Atelier

Aus recycelten Fenstern, Stroh und Holz besteht das von hochstrasser.
gesellschaft für architektur mbh geplante und selbst gebaute Atelier
Dämmung des Bodens mit 14 cm Stroh. Recycelte Siebdruckplatten als Unterboden sorgen für Luftdichtheit und Feuchteschutz von unten

Schon während der Bauzeit wurden die Ballen durch Spanngurte weiter
verdichtet. Obenauf liegt ein Ringanker aus Holz
Das gesamte Tragwerk ist überwiegend aus einer einzigen Bohle erstellt, die additiv gefügt wurde
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Bauherrin und Künstlerin Dorothea Schrade vor ihrem neuen Atelier6
Aus recycelten Fenstern, Stroh und Holz besteht das von hochstrasser. gesellschaft für architektur mbh geplante und selbst gebaute Atelier7
Dämmung des Bodens mit 14 cm Stroh. Recycelte Siebdruckplatten als Unterboden sorgen für Luftdichtheit und Feuchteschutz von unten8
Schon während der Bauzeit wurden die Ballen durch Spanngurte weiter verdichtet. Obenauf liegt ein Ringanker aus Holz9
Das gesamte Tragwerk ist überwiegend aus einer einzigen Bohle erstellt, die additiv gefügt wurde
Regelmäßige Pflege
„Das Strohatelier ist für uns ein experimenteller Bau“, betont Selina Edel. „Es ist nicht nur Erlebnis, sondern ebenso prozesshafte Forschungsstation“, ist auf der Internetseite von hochstrasser zu lesen. Das Stroh ist komplett der Witterung ausgesetzt und die Wände sind nicht dicht, können aber kontrolliert austrocknen. Die Gurte dehnen sich bei Feuchtigkeit aus und müssen regelmäßig nachgespannt werden. Einmal im Jahr überprüfen die Architekt*innen das Gebäude und kontrollieren es auf Setzung oder ob sonst irgendetwas daran gemacht werden muss. Frau Schrade hätte es gerne mit Lehm verputzt, so wie es ursprünglich entworfen gewesen war. Doch die Architekten wollen das Stroh erst einmal frei verwittern lassen. „Wir haben uns nach dem Bau entschieden, es nicht zu verputzen, weil wir die unnachahmliche Ästhetik erhalten und die Setzungen beobachten wollen“, erklärt die Architektin.
Eventuell wird noch eine Verschattung nachgerüstet. Aktuell sorgt im Sommer ein Baum für Schatten. Allerdings stehen zwei Fensterfelder am Nachmittag in der Sonne, das Gebäude überhitzt. Auch wenn es noch Nachbesserungen braucht – die Bohlenkonstruktion könnte zu einem Selbstbau-System ausgearbeitet werden.

Auf der freitragenden Strohwand liegt das gelenkig detaillierte Dach und folgt der Verdichtung

Alt und Neu harmonisch kombiniert: Die historische Türe wurde von Lack befreit und kontrastiert jetzt gut mit den maschinell verarbeiteten Holzplatten

Blick zurück auf den Eingang

Wiederverwertete Fenster aus dem Renaissance-Schloss Mochental

Große Flächen für die Bilder der Künstlerin
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Auf der freitragenden Strohwand liegt das gelenkig detaillierte Dach und folgt der Verdichtung11
Alt und Neu harmonisch kombiniert: Die historische Türe wurde von Lack befreit und kontrastiert jetzt gut mit den maschinell verarbeiteten Holzplatten12
Blick zurück auf den Eingang13
Wiederverwertete Fenster aus dem Renaissance-Schloss Mochental14
Große Flächen für die Bilder der Künstlerin
Weiterführende Literatur und Links:
- Fachagentur für nachwachsende Rohstoffe (Hrsg.): „Strohgedämmte Gebäude“, FNR e.V., 2023, fnr.de
- “Allseits verbunden mit Lehm – arcana Baugesellschaft“, innerhalb der Schriftenreihe Lehmmuseum Gnevsdorf, FAL e.V., 2020, lehmmuseum.de
- Fachagentur Strohballenbau Deutschland (Hrsg.): „Strohbaurichtlinie SBR-2019“, Verden, 2019
- Schulungsräume aus 40 Tonnen Stroh in Holzdorf
- Der Selbstbau-Pionier
- Bauhäusle – das etwas andere Studierendenwohnheim Stuttgarts
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