Mehrfamilienhaus mit Stroh gedämmt
Dieses Mehrfamilienhaus mit seiner innovativen Holz-/ Stroh-Bauweise ist nicht denkbar ohne eine mehr als zehnjährige Vorgeschichte, an der sowohl einer der Bauherren, als auch der Architekt, beteiligt waren: Bauherr Ulrich Steinmeyer ist aktiv als Vorstand von Ökoplus, dem Branchenverband der Naturbaustoffhändler. Architekt Dirk Scharmer ist Initiator des Fachverbands Strohballenbau (FASBA). Zusammen mit weiteren Beteiligten gelang es ihnen, das Leuchtturmprojekt „Norddeutsches Zentrum für nachhaltiges Bauen“ als fünfgeschossigen Strohbau zu errichten (in Zeitschrift WOHNUNG+GESUNDHEIT 156).
Innovative Strohbauweise
Basierend auf diesen Erfahrungen wählten die Bauherren aus energetischen und aus Kostengründen einen kompakten Baukörper mit einem Satteldach. Die lange Seite des Gebäudes zeigt dabei nach Süd-Südost, was eine gute Nutzung der Sonnenenergie für die Photovoltaik-Anlage und die Zimmer ermöglicht. Beim ökologischen Konzept wurde darauf geachtet, dass das Gebäude möglichst gut gedämmt ist, dass Wärmebrücken vermieden werden und dass die Ausrichtung der Fenster eine gute „passive“ Sonnennutzung ermöglicht. Mehr als die Hälfte der Fensterfläche der Wohnungen sind nach Süden orientiert und nur die kleinen Badezimmerfenster nach Norden. Die Fenster nutzen so das einfallende Sonnenlicht im Winter zur Gebäudeerwärmung. Der große Dachüberstand nach Süden sowie der Balkon führen dagegen zu einer guten sommerlichen Verschattung.
Die Gebäudehülle besteht aus einer tragenden Holzkonstruktion, deren Zwischenräume mit Strohballen gedämmt sind. Für die Konstruktion kamen überwiegend sägeraue Holzbalken zum Einsatz, beim Stroh handelt es sich um von „BauStroh“ zertifizierte Strohballen, deren Transportaufwand für die Anlieferung sehr gering ausfiel. Diese Konstruktion ermöglichte einen sehr guten Dämmwert für die Außenwände, die außen mit Kalk und innen mit Lehm verputzt sind.
Dadurch wird zum einen ein sehr geringer Energieverbrauch in der Nutzungsphase erreicht. Zum anderen wird durch den Einsatz wenig technisch aufbereiteter Naturbaustoffe der Primärenergieverbrauch für den Bauprozess gegenüber konventionellen Gebäuden erheblich verringert.
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Südansicht des Strohballenhauses mit Photovoltaik und großem Dachüberstand zur Verschattung2
Frei Hand werden die überkämmten Fensterrahmen mit Kalk rund geputzt3
Rohbau der Wand mit Schilfmatte, Lehmputz und Wandheizung4
Lieferung der Strohballen
Energiekonzept mit Nahwärme
Das energetische Gesamtkonzept basiert darauf, möglichst weitgehend Energieverluste in der Bau- und Nutzungsphase zu vermeiden und die notwendige Restenergie für die dauerhafte Nutzung des Gebäudes selbst zu erzeugen oder über erneuerbare Energieträger dem Gebäude zuzuführen. Basis des Konzepts ist ein kleines Nahwärmenetz gemeinsam mit zwei weiteren Holzhäusern in der Nachbarschaft. Die drei Häuser mit insgesamt zehn Wohnungen sind für die gesamte Energieversorgung mit Strom und Wärme zusammengeschlossen. Dadurch reicht für die benötigte Restenergie eine Pelletheizung, eine thermische Solaranlage mit großem Warmwasserspeicher und eine große Photovoltaikanlage aus.
Das Nahwärmenetz wird mit einer Temperatur von 45 Grad Celsius und mit Wärmetauschern in den Wohnungen betrieben. Dadurch werden die Wärmeverluste im Erdreich und den Zuleitungen verringert und die thermische Solaranlage kann länger genutzt werden. Zudem dient eine Lüftungsanlage mit Wärmerückgewinnung im Winter als Ergänzung. Sie ist mit einem Erdregister für die Vorwärmung der Luft im Winter und für eine Möglichkeit zur Kühlung im Sommer ausgestattet.
Die Photovoltaikanlage erzeugt etwa den gesamten benötigten Strom der Haushalte. Davon wird ca. 50 % direkt verbraucht. Der Rest wird ins öffentliche Netz eingespeist und zu anderen Zeiten wieder von dort bezogen.
Vergleichende Ökobilanzen
Um die ökologischen Unterschiede verschiedener Bauweisen und Nutzungskonzepte deutlich zu machen, verglich Architekt Scharmer das Verdener Holz-/Strohgebäude mit einem regionaltypischen Haus gleicher Größe und Form in der in Norddeutschland häufig vorzufindenden Klinkerbauweise – einmal mit gleicher Gebäudetechnik und zum anderen mit konventioneller Haustechnik. Dabei bilanzierte er die Herstellungsphase und die Nutzungsphase in den ersten 50 Jahren, also den Aufwand für die Herstellung und Instandhaltung sowie den Wärmebedarf der Bewohner mit Heizung und Warmwasser. Außerdem bezog er den Strombedarf und die Stromproduktion auf dem Gebäude mit ein.
Scharmers Berechnungen zum Treibhauspotenzial ergaben, dass das Strohhaus nach 50 Jahren bei Herstellung, Instandhaltung und Wärmeverbrauch insgesamt 15 Tonnen Kohlendioxid (CO2) emittiert haben wird. Etwa 40 Jahre lang wird das Gebäude inkl. Wärmeverbrauch und Unterhaltung kein CO2 verursachen.
Verglichen mit einem konventionell errichteten Gebäude mit gleichem energetischen Standard und gleicher Haustechnik ergebe sich nach 50 Jahren Nutzung eine Differenz von etwa 220 Tonnen CO2, verursacht im Wesentlichen durch die unterschiedlichen Baustoffe. „Diese Menge würde ausreichen, um mit einem 120 Gramm-PKW* 45 mal um die Erde zu fahren“, hat Scharmer errechnet. Neben der positiven Klimabilanz des Gebäudes gibt es auch beim Energieverbrauch deutliche Unterschiede zu konventionellen Gebäuden. Mit der beim Bau mit Naturmaterialien gegenüber konventionellen Materialien eingesparten Energie (nicht erneuerbare Primärenergie) ließe sich das Gebäude rund 100 Jahre heizen. Oder anders ausgedrückt: Mit dem gleichen (nicht erneuerbaren) Primärenergieeinsatz, der für ein konventionelles Haus anfällt, könnten zwei gleich große Strohhäuser gebaut werden.
Baudaten Mehrfamilienhaus in Verden
Baujahr | 2017 |
Wohnfläche | 450 m2 (6 Wohnungen) |
Außenwände | Von innen nach außen: Lehmputz, tragende Holzkonstruktion, Dämmung mit 24 cm Baustrohballen, Kalkputz U-Wert = 0,16 W/m2K |
Fenster | Holzfenster mit 3-fach Isolierverglasung |
Decke | Brettstapeldecke, Kalksplitt, Holzweichfaser, Koksfaser, Ladung und Massivdielen |
Dach | Von innen nach außen: Gipsfaserplatte, Luftdichtung, 28 cm Zellulosedämmung, Holzweichfaserplatte, Dachziegel |
Schallschutz | doppelte Wohnungstrennwände, Treppenhaus (Eichentreppe) mit doppelten Wänden |
Planung | Deltagrün Architektur, Dirk Scharmer, Lüneburg |
Energiekonzept | Energieverbund für Wärme und Strom mit 2 Nachbarhäusern (KfW 40) |
Pelletofen | für geringe benötigte Restwärme (ca. 4 t Pellets/Jahr) |
Solarwärme | thermische Solaranlage (30m2) mit 2.000 l Pufferspeicher |
Photovoltaik | PV (ca. 17.000 kWh prognostiziert), Batteriespeicher |
Baukosten | 1.750 € (Gebäudekosten pro m2 Wohnfläche inkl. aller Kosten ohne Grundstück) |
* 120 g CO2/km entspricht dem CO2-Ausstoß eines Mittelklassewagens
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Ich bin begeistert vom Strohballenbau und der Dämmung mit Strohballen.
Allerdings ist es meiner Meinung nach problematisch Stroh zu verwenden, das mit Glyphosat verseucht ist. Ich weiß, dass in den Verbänden anders argumentiert wird, aber ich sehe es kritisch.
Glyphosat löst sich nicht einfach ins NICHTS auf. Es fundiert meiner Meinung nach durch die Wände ins Hausinnere.
Wenn das Stroh vom Weizen kommt ist es in Deutschland fast immer mit Glyphosat hoch belastet
Lösung: Stroh aus Bio oder Stroh garantiert ohne Glyphosat
Hallo Sandra,
ja, dieses Thema sollte man ernst nehmen und deshalb hatten wir hierzu im IBN 2019 eine Masterarbeit fachlich begleitet, die im Baubiologie Magazin unter dem Titel Baubiologische Untersuchung von Stroh als Baustoff kurz vorgestellt wird. Einige Anbieter von Bauprodukten aus Stroh wie z.B. Strohballen oder Einblasdämmungen haben dieses Thema auf dem Schirm – siehe hierzu die Kommentare zum soeben genannten Beitrag; auch der Fachverband Strohballenbau e.V. beschäftigt sich mit diesem Thema.
Das einzige Manko bei den Strohballen ist, dass viel mehr Grundfläche benötigt und verbaut wird. Wenn der Gesetzgeber hier steuerlich gegenwirken würde, wäre es perfekt.
Mich fasziniert immer wieder die unschlagbare Ökobilanz des Dämmstoffs Stroh. Dass Stroh als Abfallprodukt der Getreideernte CO2 speichert statt produziert, macht diesen Baustoff haushoch überlegen gegenüber jedem Baustoff, der mit viel Ressourcen- und Energieeinsatz hergestellt werden muss.
Danke an Architekt Dirk Scharmer für seine Berechnungen zur Ökobilanz – und seine schönen Bauten.
Im Studium habe ich mich ebenfalls mit dem ökologischen Baustoff beschäftigt. Es ist toll zu sehen, dass es in der Praxis funktioniert und dazu noch mit einem sehr gutem nachhaltigem Konzept.